Der so beschriebene Nachtverkehr bedient mehrere Aktionsradien mit unterschiedlichen Potenzialen. Die IR und IRN-Linien decken den mittleren Fernreiseradius bis 400 km ab. Diese Reisedauer ist zu kurz für das Einchecken im Liege- und Schlafbereich. Für entspanntes Reisen auf Abteil-Liege-Sitzen ist sie aber interessant.
Die IC/ICE und ICN/ICEN-Linien bilden innerdeutsche Durchmesserlinien im Distanzbereich bis 700 km. Wegen der ausreichend langen nächtlichen Reisedauer lohnt sich das Einchecken im Liege- und Schlafbereich. Preissensible Nutzer verbringen die Nacht stattdessen im improvisierten Sitz/Liegestatus der Sitzwagenabteile, allerdings erhalten sie hierfür Decken und Kissen und profitieren von der besonderen Sicht- und Lärmdämmung im Abteilbereich. In den jeweiligen Grenzregionen fahren sie jeweils bis in den nächsten größeren Bahnknoten des jeweiligen Nachbarlandes.
Besonders relevant für die Liege- und Schlafwagennutzung ist der grenzüberschreitende Nachtverkehr im Distanzbereich zwischen 700 km und 1100 km. Züge mit dieser Reiseweite durchqueren in der Regel Deutschland ganz und haben Start und/oder Ziel in einem der Nachbarländer. Hier bieten sich für die lange Nachtfahrt immer ein Einchecken im Schlaf- und Liegewagenbereich oder bei Preissensiblen die liegende Fahrt mit Decke und Kissen im Liege-Sitzwagen-Abteil an. Ohnehin erfordert der vorherige lange vorabendliche oder anschließende spätmorgendliche Reiseanteil auch konventionelle Sitzoptionen und vor allem einen ausreichenden Speisewagenservice.
Jenseits der 1100 km umfassen Bahnreisen in Europa das ganze oder teilweise Durchfahren der jeweiligen Nachbarländer. Hier kommen daher vorwiegend internationale EC- und ECN-Züge zum Einsatz. Zu diesen großen Reiseweiten gehören immer auch lange Nachtfahrten. Dafür bietet sich dann das Einchecken im Liege- und Schlafwagenbereich besonders an. Die lange vorherige oder anschließende Tagetappe erfordert dann aber auch die konventionellen Sitz- und Serviceoptionen des Tagverkehrs.
Deutschland ist wegen seiner zentralen Lage in Europa und wegen seiner polyzentrischen Raum- und Siedlungsstrukturen von allen diesen Optionen betroffen. Die innerdeutschen Nachtverkehre betreffen praktisch das ganze deutsche Schienennetz. Die Nachtverkehre in die Nachbarländer betreffen alle grenzüberschreitenden Fernverkehrsverbindungen, bei denen der größere Teil der Reise innerhalb Deutschlands und der kleinere Teil im Nachbarland erfolgen. Die Nachverkehre über große Distanzen betreffen alle großen Fernverkehrsachsen, auf denen der größere Teil der Reise im Ausland und nur ein kleinerer Teil in Deutschland erfolgt. Wichtig ist, nicht nur die großen Metropolen auf wenigen ausgewählten Korridoren mit ICE/IC/EC/IR-N zu verbinden, sondern ebenso alle kleineren Großstädte und Mittelstädte (Ober- und Mittelzentren), aber auch alle wichtigen Tourismusregionen, darüber hinaus auch aufkommensstarke Kurorte. Die Traktionslänge sollte flexibel der jeweiligen Aufkommenserwartung angepasst werden, also auf den Hauptachsen Vollzüge, im Nachtbetrieb mit mindestens 4 Schlaf- und Liegewagenwaggons, auf den weniger frequenzstarken Relationen dann eben Halb- und Drittelzüge, die ggf. im Hauptlauf auf den großen Korridoren auch vereint und in den Regionen geflügelt werden können, dann entsprechend im Nachtbetrieb mit weniger Schlaf- und Liegewagenwagons.
Bei den innerdeutschen Nachtverbindungen macht es oft Sinn, die Züge zwischen 2 h und 4 h anzuhalten, damit sie nicht zu früh (also zu nachtschlafener Zeit) ihre Zielbahnhöfe erreichen, andererseits aber auch für die Frühpendler interessant sind. Bei diesen Zügen ist ein relativ häufiges Anhalten in allen großen unterwegs durchfahrenen Zentren sinnvoll bis ca. 1 h und ab ca. 5 h, um mehr Potenzial abzugreifen. In der „Kernschlafzeit“ dagegen soll die Reise möglichst ruhig erfolgen.
Bei den Nachtzügen mittlerer Distanz ins benachbarte Ausland und erst recht bei den internationalen Fernzügen mit großer Reiseweite kommt es mehr auf Reisezeitverkürzung an, daher bedienen sie nur die großen Metropolen, haben keine Unterwegsstandzeiten und befahren bevorzugt schnelle Strecken.
Folgende Marktsegmente sind für die so beschriebenen Nachtzüge interessant:
- Fernpendler, die überwiegend in Tagesrandzeiten unterwegs sind,
- Touristen, die erst sehr spät ihr Ziel erreichen oder ihre Reise wegen der langen Distanz schon sehr früh morgens antreten und die durch die Nachtzugnutzung am Anfang oder Ende ihrer Reise Zeit und Geld sparen wollen,
- generell bahnaffine Menschen, die zunehmend sauer sind, weil die Bahn sich aus den Nachtzugangeboten zurückzieht und die gern zum Nachtzug zurückkehren, wenn er sie adäquat bedient,
- „multilokale“ Menschen, die häufig aus privaten und/oder beruflichen Gründen in weit auseinander liegenden Städten leben und/oder arbeiten,
- Studenten für ihre regelmäßigen Heimfahrten zu weit entfernten Heimatorten oder auf der Fahrt zu ihren im Ausland liegenden Austauschorten,
- Senioren, die ihre Kinder und Enkel an weit entfernten Zielen besuchen wollen,
- alle Gruppenreisen (z.B. Schulklassen, Exkursionsgruppen, Sportmannschaften, Vereine), denen die Bahn tariflich aber auch komfortmäßig sehr viel bessere Gruppenkonditionen bieten kann als andere Verkehrsträger,
- Menschen, für die die Bahn auch ein Kommunikationsort ist, weil verglichen mit dem PKW, Fernbus oder Flieger in der Bahn Gruppenkommunikation sehr viel besser möglich ist,
- Menschen, die ihre Reise auch zum Arbeiten nutzen wollen, weil im Zug Arbeiten und sich Ausbreiten sehr viel besser möglich ist als im Flieger, Fernbus oder Auto,
- Menschen mit Flugangst, denen die Bahn sehr viel sicherer scheint als der Flieger,
- Menschen mit Unlust, sich beim Fliegen den Abenteuern langer Eincheck- und Auscheckzeiten sowie langer Vor- und Nachlaufzeiten auszusetzen, die stattdessen eher die Ankunft auf dem Bahnhof mitten in der Stadt bevorzugen,
- umweltbewusste Reisende, die unnötige Flugreisen vermeiden wollen,
- Menschen, die Beinfreiheit und Freizügigkeiten in Zügen der Ölsardinenbeförderung im Flieger oder Fernbus vorziehen,
- Menschen, die mehr Reisekomfort und Service wünschen, als PKW, Fernbus und Billigflieger bieten können,
- Menschen, die sich den Stress langer nächtlicher Autofahrten mit Staus sparen wollen,
- Menschen, die vor und während der Reise gern Alkohol konsumieren, was im Auto schlecht geht,
- Zeitsensible und ökonomisch denkende Menschen, die die Zeit- und Kostenvorteile des Nachtsprungs nutzen wollen, um sich die sonst nötigen Hotelkosten am Ziel- oder Quellort zu sparen.
Fazit: Es ist ein verkehrspolitischer Skandal, dass die meisten Bahnen Europas derzeit unter dem Druck der typischen Rationalisierer und Kostensparer den Rückzug aus den Netzen und aus dem Nachtverkehr planen und damit quasi ihre Bahnkultur und Position als umweltschonender, klimafreundlicher, energiesparsamer, postfossiler Verkehrsträger opfern. Und es ist ärgerlich, dass die nationalen und europäischen Verkehrspolitiken diesem Kahlschlag tatenlos zusehen, satt endlich eine europäische und in den jeweiligen Ländern auch nationale Bahnoffensive zu starten, damit die Renaissance der Schiene endlich „auf die Schiene kommt“. Man braucht eine Allianz aus Umwelt- und Verkehrsverbänden, Bahngewerkschaften, Bahnindustrie, Bahnbetreibern, Aufgabenträgern sowie Verkehrspolitikern aus den Regionen, den Ländern, dem Bund und der EU, um das Abwracken der europäischen Bahnkultur zu stoppen und kreative Impulse für eine Verkehrswende zu setzen.
Teil III des (leicht gekürzten) Beitrags von Prof. H. Monheim zum LunaLiner (zu Teil I, zu Teil II) – mit freundlicher Genehmigung des Autors
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